Ruhm und Nachruhm

Als sich Goethe am 3. September 1786 „früh drei Uhr“ von Karlsbad fortstahl (weil man ihn „sonst nicht fortgelassen hätte“2) und sich in Richtung Süden aufmachte, war der 1782 nobilitierte Dichter – unter anderem – wegen seines Götz von Berlichingen, seines Clavigo, seiner Stella und vor allem wegen seiner Leiden des jungen Werthers bereits „von olympischem Gewähr“ (Gottfried Benn). Goethes italienische Reise währte bis in den Mai 1788 hinein. Er war somit 21 Monate unterwegs. Sein ausführlicher Reisebericht ist wohl der bedeutendste seiner Art, der in deutscher Sprache verfasst worden ist. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Nachwelt der italienischen Reise Goethes besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Um 1875 (demnach etwa 90 Jahre nach dem skizzierten Ereignis) edierte der Frankfurter „Commissions-Verlag“ Johannes Alt eine Mappe mit zwölf Tafeln im Format 16,7 cm x 10,9 cm. Ihr Inhalt waren „Hermann Junker’s Bilder aus Goethe‘s Leben“. Die Fotografien von den zeichnerischen Vorlagen fertigten C. Abel und A. Liebener, die biografisch noch nicht ermittelt werden konnten. Deren künstlerischer Urheber war Hermann Junker (18.9.1838 Frankfurt a.M. – 10.2.1899 ebenda). Der gelernte Lithograf tat sich als Maler und Grafiker hervor und illustrierte historische Ereignisse wie auch Szenen aus dem Leben bedeutender Persönlichkeiten.

Abb. 2. Gefahrvolle Fahrt (Goethe vor Capri), gezeichnet von Hermann Junker, um 1875. Tafel aus dem zitierten Mappenwerk.
Abb. 2. Gefahrvolle Fahrt (Goethe vor Capri), gezeichnet von Hermann Junker, um 1875. Tafel aus dem zitierten Mappenwerk.

Die zwölf Tafeln wurden in drei Größen gefertigt und zum Preis von 180,48 und 13,50 Mark angeboten. Der Mappe, die kein Erscheinungsjahr aufweist, liegt ein Heft bei, in dem der Inhalt der Tafeln vom Künstler erläutert wird. Für „Blatt VIII.“ findet sich der folgende Text:

Gefahrvolle Fahrt. (Capri.)

Von Sicilien kommend fuhr Goethe auf einem französischem Kauffahrteischiffe mit einer Menge anderer Passagiere wieder zurück nach Neapel. Der Schiffshauptmann war des Fahrwassers nicht ganz kundig und gerieth unterwegs in die gefährliche Strömung der Insel Capri. Die Lebensgefahr vor Augen, brach unter den Passagieren eine Emeute los. Man wollte dem Capitain an’s Leben. Goethe, dem Anarchie in tiefster Seele zuwider war, donnerte mit der Gewalt seiner Rede die Tobenden nieder und verwies sie an diejenige, welche ihnen allein Rettung bringen könne: an die heilige Jungfrau. Ueberwältigt stürzten die Angreifer nieder auf die Kniee und beteten und wie durch ein Wunder erhob sich ein günstiger Wind, der den Gebrauch der Segel gestattete. Alle waren gerettet.“ Da hatte sich der Olympier Goethe nach der Interpretation Junkers als Titan erwiesen!

Goethe selbst, der sich literarisch stets beherrscht, souverän und jeder Situation gewachsen darstellte, schildert die Situation freilich anders: Wohl war ihm „von Jugend auf Anarchie verdrießlicher gewesen als der Tod selbst“, doch redete er der in ihrer Todesangst aufgebrachten Meute, zwischen ihnen auf dem Deck stehend, voller Gemütsruhe zu. „Ich stellte ihnen vor“, so Goethe selbst, „daß gerade in diesem Augenblick ihr Lärmen und Schreien denen, von welchen noch allein Rettung zu hoffen sei, Ohr und Kopf verwirrten, so daß sie weder denken noch sich untereinander verständigen könnten. Was euch betrifft, rief ich aus, kehrt in euch selbst zurück und dann wendet euer brünstiges Gebet zur Mutter Gottes, auf die es ganz allein ankommt, ob sie sich bei ihrem Sohne verwenden mag, daß er für euch tue, was er damals für seine Apostel getan [….]“.3

Eben diese Szene hat Hermann Junker bildlich veranschaulicht: Goethe steht auf der Treppe zur Kajüte und gebietet den verzweifelten Menschen um ihn herum mit zum Himmel ausgestrecktem linken Arm Einhalt – und das in astreinem Italienisch, versteht sich. Auch wenn sich die Beinahe-Katastrophe bei Nacht abspielte, bringt sie Hermann Junker der Anschaulichkeit wegen an das Tageslicht. Soviel künstlerische Freiheit ist erlaubt. Zu ihr gehört auch der obligate rauchende Vesuv im Bildhintergrund. Mit dem Schiff von Messina kommend und in Richtung Neapel fahrend, läge er bildlich nicht hinter, sondern vor der Szene.

Doch nicht genug mit der Popularität dieser dramatischen Szene: Nun zeitlich genauer datierbar, wurde die Zeichnung, die auf der Bordwand des Schiffes mit „Hermann Junker fet.“ aber ohne Jahr bezeichnet ist, in einen Holzstich mit den Maßen 27,5 cm x 21,8 cm umgesetzt. Unten rechts trägt er die Signatur „EH Bothe“ (sowie einige unleserliche Zeichen).4 Abgebildet ist die Illustration 1876 in der damals sehr populären illustrierten Wochenzeitung „Über Land und Meer“, die seit 1858 im Stuttgarter Verlag von Eduard Hallberger (1822–1880) erschienen ist und von dem zu seiner Zeit viel gelesenen Unterhaltungs-schriftsteller Friedrich Wilhelm Hackländer (1816–1877) herausgegeben worden war. Auf der folgenden Seite ist „das lebensvolle Bild“ dieser Szene literarisch charakterisiert.5 Die Besonnenheit Johann Wolfgang von Goethes hat ein Wunder bewirkt – und das nur wenige Meter von der „Zauberinsel“ Capri entfernt!6

Abb. 3. Gefahrvolle Fahrt (Goethe vor Capri), Holzstich von E.H. Bothe nach einer Zeichnung von Hermann Junker, 1876. Abbildung aus der zitierten Literatur.
Abb. 3. Gefahrvolle Fahrt (Goethe vor Capri), Holzstich von E.H. Bothe nach einer Zeichnung von Hermann Junker, 1876. Abbildung aus der zitierten Literatur.
Abb. 4. Goethe bei Capri, einen Schiffsaufstand beschwichtigend. Nach einer Zeichnung von Hermann Junker, Ende 19. Jahrhundert. Künstlerpostkarte aus dem zitierten Mappenwerk.
Abb. 4. Goethe bei Capri, einen Schiffsaufstand beschwichtigend. Nach einer Zeichnung von Hermann Junker, Ende 19. Jahrhundert. Künstlerpostkarte aus dem zitierten Mappenwerk.

Doch noch nicht genug damit: Der Frankfurter Verlag von Paul Grödel edierte die zwölf „Bilder aus Goethe’s Leben“ von Hermann Junker als Bildpostkartenserie.7 Postkarten gibt es in Deutschland seit etwa 1870; Ansichtskarten und Postkarten mit szenischen Darstellungen folgten rasch. Die zwölf Künstlerpostkarten haben das Format 14,2 cm x 8,9 cm. Nummer 8 trägt den Titel „Goethe bei Capri, einen Schiffsaufstand beschwichtigend“. Es handelt sich in der Abbildung auf der Vorderseite der Karte um eine exakte Wiedergabe von Blatt VIII der um 1875 edierten Mappe mit zwölf Zeichnungen Hermann Junkers von Episoden aus Goethes Leben. „Die eingesehenen postalisch gelaufenen Exemplare tragen Poststempel aus dem Ende des 19./Beginn des 20. Jahrhunderts.“8 Dieser Umstand, die Typografie der verwendeten Schrift wie auch der mitgedruckte Vermerk „gesetzl. gesch.“ erlauben eine Datierung dieser Postkartenserie in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts.