Goethes Capri
von Claus Pese
Einführung
Capri stand auf Johann Wolfgang von Goethes legendärer italienischer Reise nicht im Itinerar. Damals fehlte Capri noch der Bekanntheitsgrad um Geistesgrößen aus deutschen Landen anlocken zu können. Bei der Rückfahrt von Messina nach Neapel im Mai 1787 kam Goethe dieser Insel ungewollt auf beängstigende Weise aber recht nahe. Das Schiff, auf dem er sich befand, drohte an den schroffen Felswänden zu zerschellen.
Generationen später wurde die vom Dichter geschilderte Beinahe-Katastrophe bildlich veranschaulicht und als wichtiges Ereignis im Leben Goethes verortet. Im Nachhinein mochte man sich die Frage stellen: Was wäre, wenn …?
Wahrheit und Dichtung
„Was wäre, wenn …? Was hätte es für den deutschen Capri-Tourismus bedeutet, wenn gerade Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) diese Insel jemals besucht hätte? Ebenso hypothetisch ist die Frage, ob dies die Sehnsucht der Deutschen nach diesem Eiland noch gesteigert hätte. Wäre sie – wie man heute sagt – noch ʻzu toppenʼ gewesen?“
„Wie dem auch sein mag: Goethe war nicht auf Capri. Er verfehlte es gewissermaßen um Haaresbreite. Bei der Rückfahrt von Messina nach Neapel im Mai 1787 kam er der Insel auf beängstigende Weise aber sehr nahe. Er hatte noch gehofft, ʻdiesmal schneller nach Neapel zu gelangen oder von der Seekrankheit eher befreit zu seinʼ, was beides nicht eintrat.
Die Stunden verrannen, und das Schiff wurde bei völliger Windstille wegen der Strömung immer weiter westwärts getrieben anstatt in Richtung Neapel zu fahren. Dieser Umstand hatte insofern sein Gutes, als Goethe eine hinreißende Naturschilderung vom Kap Minerva gelang. Er betrachtete ʻdie Welt mit malerischen Augenʼ und genoss bei Sonnenuntergang ʻdes herrlichsten Anblicks, den uns die ganze Reise gewährt hatteʼ. Linkerhand stand ʻCapri, steil in die Höhe strebend; die Formen seiner Felswände konnten wir durch den durchsichtigen bläulichen Dunst vollkommen unterscheiden. Den Übergang vom Abend zur Nacht verfolgten wir mit ebenso begierigen Augen. Capri lag nun ganz finster vor unsʼ. Allmählich jedoch bemerkten die Passagiere, ʻdaß das Schiff, schwankend und schwippend, sich den Felsen näherte, die immer finsterer vor uns standen, während über das Meer hin noch ein leichter Abendschimmer verbreitet lagʼ. Die Situation geriet immer bedrohlicher, bis endlich Wind aufkam und ein Zerschellen des Schiffes an den Felsen abgewendet werden konnte. ʻVom Verdeck sah ichʼ, notierte Goethe, ʻmit Vergnügen die Insel Capri in ziemlicher Entfernung zur Seite liegen und unser Schiff in solcher Richtung, daß wir hoffen konnten, in den Golf hineinzufahren, welches denn auch bald geschah. Nun hatten wir die Freude, nach einer ausgestandenen harten Nacht dieselben Gegenstände, die uns abends vorher entzückt hatten, in entgegengesetztem Lichte zu bewundern. Bald ließen wir jene gefährliche Felseninsel hinter uns.ʼ“1