Erstarrung

Weitgehend abgelöst von der Landschaft entwickelte Paula Becker mit ihrer Malerei ein neuartiges, eigenständiges Menschenbild. Mit Clara Westhoff kam die Bildhauerei nach Worpswede, mit dem Maler und Grafiker Heinrich Vogeler auch Kunsthandwerk und Architektur – und: die Literatur.11 Im Frühjahr 1898 hatte Vogeler in Florenz Rainer Maria Rilke kennengelernt. Dieser besuchte Vogeler zum Weihnachtsfest auf dem „Barkenhoff“. Im Sommer 1900 kam Rilke ein weiteres Mal und lernte nun die anderen Künstlerinnen und Künstler kennen. Er verliebte sich in Paula Becker ebenso wie in Clara Westhoff und schwankte zwischen den beiden Frauen hin und her. Paula Becker neigte indes zu Otto Modersohn, dessen Ehefrau Helene kürzlich verstorben war, und Heinrich Vogeler hatte sich in sein ortsansässiges Modell Martha Schröder verliebt. Damit waren die Weichen gestellt: Am 3. März 1901 heirateten Martha Schröder und Heinrich Vogeler. Es folgten am 28. April Clara Westhoff mit Rainer Maria Rilke und am 25. Mai 1901 Paula Becker und Otto Modersohn. Diese eheliche Triple Entente sollte Ausdruck einer gemeinsamen Idee geistigen und seelischen Zusammengehörens sein, war am Ende indes kaum mehr als ein unregelmäßiges Sechseck. Auch bürgerliche Ideale lassen sich nur schwer verwirklichen.

Abb. 4. Die Westerweder Allee im Mai 2018.
Abb. 4. Die Westerweder Allee im Mai 2018.

Im Frühjahr 1903 erschien Rainer Maria Rilkes Worpswede-Schrift, die er „im Frühling 1902“12 im nahe gelegenen Westerwede, wohin er gleich nach seiner Verheiratung mit Clara Westhoff verzogen war, geschrieben hat. Gegenstand von Text und Abbildungen sind nur Werk und Entwicklung der fünf Gründungsmitglieder der Künstlerkolonie bis Ende 1901: „Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende, Heinrich Vogeler“.13 

Die Schrift liest sich wie ein Abschiednehmen von einer großen gemeinsamen Idee und wie eine poetische Vollendung dessen, was Friedrich Nietzsche ein Vierteljahrhundert vorher erkannt hatte: „[…] denn wir leben im Zeichen der Ebene und des Himmels. Das sind zwei Worte, aber sie umfassen eigentlich ein einziges Erlebnis: die Ebene. Die Ebene ist das Gefühl, an welchem wir wachsen. Wir begreifen sie und sie hat etwas Vorbildliches für uns; da ist uns alles bedeutsam: der große Kreis des Horizontes und die wenigen Dinge, die einfach und wichtig vor dem Himmel stehen. […] Und da lagen nun vor den jungen Leuten, die gekommen waren, um sich zu finden, die vielen Rätsel dieses Landes. […] Und da gingen sie nun daran, diese Rätsel zu lieben.“14