Form, Farbe und Wesen der Dinge

„Je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, umso gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaas der Natur; wir alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaas in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten.“2

Im Gleichmaß der Natur meinte 1878 Friedrich Nietzsche das Mittel zu haben, um die moderne Seele zu beschwichtigen. Die gesellschaftlichen Umbrüche, die eine Folge der Industriellen Revolution in Mitteleuropa ab den 1830er Jahren waren, verlangten nach einem Zurück zur Natur mit künstlerischen Mitteln. Eine neue Sehnsucht nach Landschaft breitete sich aus, und es sollte eine reine, der Anschauung geschuldete Naturbetrachtung sein, die weder einer Idee noch einer Absicht folgt. Eine neue Form der Landschaftsmalerei war im Kommen. Sie entstand nicht in städtischen Künstlerateliers, sondern vor Ort in der Landschaft selbst – in den Künstlerkolonien auf dem Lande.

Es war an einem Tag in der letzten Augustwoche des Jahres 1889, an dem die drei Maler Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Hans am Ende auf der Bergedorfer Brücke standen und beschlossen, für immer in Worpswede zu bleiben. Alle drei waren sie damals in der Mitte ihres dritten Lebensjahrzehnts – junge Männer also, die das Leben vor sich hatten.

Die Künstlerkolonie Worpswede im „Teufelsmoor“, zwanzig Kilometer nordöstlich von Bremen, war gegründet. Das liest sich schön, ist aber ein Mythos, denn Künstlerkolonien werden in der Regel nicht gegründet; Künstlerkolonien entstehen. Sie bilden sich in Schritten: Entdeckung einer Landschaft durch einen einzelnen Künstler; Bekanntmachen der Entdeckung an andere; gemeinsame, sporadische Aufenthalte und schließlich die Ansiedelung.

Abb. 1. Die Bergedorfer Brücke im Mai 2018.
Abb. 1. Die Bergedorfer Brücke im Mai 2018.

Für Worpswede machte Fritz Mackensen (1866–1953) den Anfang. 1883 hatte er das Studium an der renommierten Düsseldorfer Akademie begonnen, wo Mackensen Otto Modersohn (1865–1943) kennenlernte. Für sie wie für viele andere auch war der Lehrbetrieb an den Kunstakademien zu stereotyp geworden. Der Zufall wollte es, dass Mackensen in Düsseldorf bei der Schwester des Worpsweder Kaufmanns Ferdinand Stolte logierte. Bei ihr lebte auch deren Nichte Emilie Stolte, die Mackensen 1884 zu einem Besuch in ihr Elternhaus nach dem damals völlig unbekannten Worpswede einlud.3

1886 folgte ein zweiter Aufenthalt in von der Welt abgelegenen und damals schwer erreichbaren Worpswede, und im Jahr darauf ein dritter. „Wie herrlich es hier ist lieber Otto, kann ich Dir gar nicht beschreiben“, berichtete der begeisterte Fritz Mackensen an seinen Düsseldorfer Studienkollegen und Malerfreund Otto Modersohn. „Ich sah eine Birkenallee, wie sie nie ein [Théodore] Rousseau gemalt hat. Alte wunderbar geformte Stämme, silbern aus den dunklen Silhouetten herausleuchtend; ein Wassergraben, in dem sich klar ein leuchtend rotes Dach und eine helle durchsichtige Abendluft spiegelt, wie sie Rembrandt […] gemalt hat. Weit hinten auf dem durchfurchten Sandwege sieht man einen Landauer [i.e. ein viersitziger Pferdewagen mit zusammenlegbarem Verdeck] heranrollen, weiter vorn schiebt ein Mann sein beladenes Torfboot vor sich her; ein Bild pompös!!!“.4

1888 wechselte Fritz Mackensen auf die Akademie in München, lernte dort Hans am Ende (1864–1918) kennen und pflegte weiterhin den Kontakt zu Otto Modersohn. Im August des folgenden Jahres war es dann soweit: Die Künstlerkolonie Worpswede nahm ihren Anfang.