Wunderland

Zunächst wohnten die Maler bei Bauern, dann im Gasthof „Stadt Bremen“. 1892 kam Fritz Overbeck (1869–1909) – ebenfalls ein Absolvent der Düsseldorfer Akademie – erstmals nach Worpswede. Carl Vinnen (1863–1922) war häufig zu Besuch. Zwei Jahre später folgte schließlich Heinrich Vogeler (1872–1942). Der jüngste und vielseitigste unter den Worpsweder Künstlern (ebenso wie Vinnen hatte Vogeler an der Akademie in Düsseldorf studiert) konnte sich 1895 dank einer Erbschaft ein Bauernhaus in Worpswede kaufen, in dem er viele Jahre lebte und arbeitete. Damit war die erste Generation der Künstlerkolonie Worpswede komplett.

Wozu Künstlerkolonien? Der Drang, Bildwerke zu schaffen, reicht für ihr Entstehen nicht aus. Das Schaffen ist stets der Vollzug eines individuellen Drangs. Vor der Staffelei sitzt immer nur eine Person. Ausstellungen lassen sich gemeinsam aber leichter organisieren – zumal dann, wenn eine Gruppe junger Maler eine gemeinsame künstlerische Absicht verfolgt. Ende des 19. Jahrhunderts ist das vornehmlich die Landschaftsmalerei. Auf dem Lande findet man die individuellen Motive zu Hauf. Zudem ist das Leben auf dem Lande billiger und lässt sich für junge Leute ungezwungener verwirklichen.

Natürlich braucht man die Stadt. Dort gibt es Ausstellungsmöglichkeiten; dort sind die Galeristen; dort leben die Käufer, ohne die es nicht geht. Im Idealfall befindet sich eine Künstlerkolonie unweit einer Großstadt. Worpswede trennen von Bremen etwa zwanzig Kilometer.

Im Herbst 1894 gründen Hans am Ende, Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler den „Künstler-Verein Worpswede“ und stellen im April des folgenden Jahres gemeinsam in der Kunsthalle Bremen 34 Gemälde aus. Zu einem Erfolg gerät die Ausstellung nicht. Die Mehrzahl der Besucher war der Genre- und Historienmalerei noch zu sehr verhaftet. Nicht so eine junge Besucherin namens Paula Becker, damals gerade 19 Jahre alt. Sie hatte in der Ausstellung einige wirklich „ganz famose Sachen“5 gesehen und längst beschlossen, Malerin zu werden. Das Schicksal wollte es, dass der Maler Eugen Stieler, damals Präsident der Münchner Secession, die Ausstellung besuchte, hellauf begeistert war und sie im Sommer 1895 im Königlichen Glaspalast in München präsentierte. Das bedeutete den Durchbruch! „Von nun an werden die jungen Maler zu allen wesentlichen Ausstellungen in Dresden, Berlin, Wien und anderen Kunstmetropolen eingeladen.“6

Im Juni 1897 kommt Paula Becker (1876–1907), die inzwischen in Berlin eifrig Malkurse besucht, erstmals nach Worpswede. Kurze Zeit vorher muss sie Gerhart Hauptmanns soeben erschienenes „deutsches Märchendrama“ „Die versunkene Glocke“ gelesen haben, denn Paula Becker beginnt ihren ersten (leider nicht genau datierbaren) Bericht mit: „Worpswede! Worpswede! Worpswede! Versunkene-Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle [zur Beförderung des Torfes nach Bremen] mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme [der Fluss] mit ihren dunkeln Segeln [der Boote]. Es ist ein Wunderland, ein Götterland.“7

Paula Becker lernt Fritz Mackensen kennen, den „Mann mit den goldenen Medaillen in den Kunstausstellungen.“8 Sie besucht Heinrich Vogeler in seinem Domizil, dem „Barkenhoff“. Es gibt erste Kontakte zu Otto Modersohn („Ich möchte ihn kennenlernen, diesen Modersohn.“)9 und Fritz Overbeck. Hans am Ende kennt sie anfänglich noch nicht.